Leitartikel 10. Okt 2024

Jahr der Extreme

Die alten Herausforderungen Krieg, Krisen und Antisemitismus haben seit dem 7. Oktober eine neue, erschreckende Realität für jüdische Gemeinschaften und Menschen weltweit angenommen. Die vorliegende Ausgabe fasst diese Bedrohungen in den Blick, eröffnet dabei aber auch Hintergründe. Dazu gehört unbedingt eine Untersuchung von AIPAC, dem «American Israel Public Affairs Committee». Wie wurde die 1954 gegründete Organisation ab den 1980er Jahren so einflussreich unter den zahllosen Lobbys in Washington? Unser US-Korrespondent Andreas Mink hat hierzu mit Ron Kampeas von der Jewish Telegraphic Agency einen kenntnisreichen Gesprächspartner gefunden. Kampeas ordnet den Aufstieg von AIPAC nicht zuletzt in das wachsende Selbstbewusstsein amerikanischer Juden seit der Bürgerrechtsbewegung ein: Aus der Gewissheit heraus, selbstverständlich als Amerikaner akzeptiert zu werden, entwickelten jüdische Aktivisten ein effektives Engagement für Israel nicht nur in der amerikanischen Hauptstadt.

Eben diese Selbstverständlichkeit ist seit dem 7. Oktober 2023 einer neuen Ungewissheit gewichen. Gerade in einem der liberalsten Quartiere müssen jüdische Familien nun Hassreden gegen Juden und Israel anhören – dies aus den Zelten pro-palästinensischer Demonstranten an der New York University. Mink hat darüber mit Rabbinerin Diana Fersko gesprochen, deren Village Temple in der Nachbarschaft der NYU unterhalb des Union Square in Manhattan sitzt. Fersko hat Wochen vor dem 7. Oktober mit «We Need to Talk about Antisemitism» ein Buch von mittlerweile tragischer Aktualität vorgelegt.

Lehnt die Reformrabbinerin darin politische Positionen zugunsten einer Betonung der Thora ab, so diskutiert Jerry Fischer den Rechtsruck in Israel und den USA. Doch der Dokumentarfilmer und ex-Geschäftsführer des Gemeindeverbands im östlichen Connecticut schildert aus eigener Erfahrung zudem die engen persönlichen Bande zwischen amerikanischen und Juden in Israel: Die Hamas-Terroristen hatten Liat Beinin Atzili, die Tochter seines in Israel lebenden Cousins Yehuda Beinin, gefangen genommen und ihren Mann Aviv bei der Verteidigung des Kibbuz Air Oz ermordet.

Mit der israelischen Gesellschaft setzt sich dagegen Dr. Yofi Tirosh auseinander, ein Mitglied der juristischen Fakultät der Universität Tel Aviv und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Shalom-Hartman-Institut. Tirosh untersucht Bestrebungen nach einer immer strikteren Geschlechtertrennung in Israel und identifiziert die treibenden Kräfte dahinter: nicht allein Orthodoxe, sondern auch konservative Muslime. Der Jurist betrachtet diese Anstrengungen als existentielle Gefahr für den jüdischen Staat gerade in einem Moment höchster äusserer Bedrohungen.

Einen Überblick zu jüdischen Gemeinden in Europa bietet Diana Pinto. Aus ihrer profunden Kenntnis der Materie heraus umreisst die Historikerin die dramatischen Folgen des 7. Oktober: Israeli seien «zu bedrohten Juden in ihrem eigenen Land geworden… Israel ist von Feinden umgeben, die viel furchterregender und unerbittlicher sind als die Einzelpersonen und Gruppen, die in ganz Europa antisemitische Anschläge verüben.» So wünscht sich Pinto einerseits von europäischen und amerikanischen Juden mit Sympathien für das Leid der Palästinenser unter israelischer Besatzung ein neues Verständnis für die Gefahrenlage des jüdischen Staates. Aber eine neue Solidarität zwischen der Diaspora und Israel erfordere auch die Anerkennung palästinensischer Rechte.

Redaktion