Analyse 10. Okt 2024

Gemeinsames Entsetzen, gleiche Gräben

Eine Besucherin am Gelände des Nova-Musikfestivals in der Nähe des Kibbuz Reim vor einer Collage aus den Porträts der Hamas-Opfer, die dort im Süden Israels am 7. Oktober von den Terroristen ermordet…

Die Juden in Europa nach dem 7. Oktober. 

Es war schon immer unmöglich, über «die Juden in Europa» oder das «europäische Judentum» nach 1945 zu sprechen, als ob sie eine monolithische Einheit wären. Diese einfache Wahrheit gilt auch nach dem 7. Oktober 2023. Abgesehen von dem gemeinsamen Entsetzen über die Terroranschläge teilen die Juden in Europa heute die gleichen Gräben, die gleichen gegensätzlichen Werte und Zugehörigkeiten wie die stark zersplitterten Juden in Israel. In ganz Europa und Amerika gibt es Juden, die für Netanyahu sind, ethno-nationalistische Juden, die für die Besiedlung eintreten, ultra-orthodoxe Juden mit messianischen Neigungen, aber auch unnachgiebige Gegner der israelischen Regierung, säkulare Juden sowie minoritäre Stimmen, die sogar mit der Notlage der Palästinenser nach 57 Jahren Besatzung (aber nicht mit dem Terrorismus der Hamas) sympathisieren können.

Der Rechtsruck und die Juden
Diese grossen jüdischen Differenzen über Israel spielen sich in ganz Europa ab, sowohl innerhalb der jüdischen Gemeinden als auch innerhalb der verschiedenen politischen Parteien, die derzeit den Kontinent prägen. Pro-Netanyahu-Juden, die Israels ethnozentrische Identität nachdrücklich unterstützen, wenden sich auf etwas paradoxe Weise (in Anbetracht der Vergangenheit) den eher rechtsgerichteten und autoritären Parteien in Europa zu. Diese suchen einen Schulterschluss mit der israelischen Rechten, ohne sich notwendigerweise völlig von alten antisemitischen Tropen befreit zu haben. So sympathisieren viele italienische Juden und Gemeindeleiter aus der Überzeugung heraus mit der Regierung von Giorgia Meloni, dass die Linke viel zu pro-palästinensisch ist und daher nicht als politische Alternative taugt. Auch Frankreich ist in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel.

Während der Parlamentswahlen in diesem Sommer erklärten so wichtige intellektuelle jüdische Stimmen wie Alain Finkielkraut und Serge Klarsfeld, dass sie sich bei einer Wahl zwischen Jean-Luc Melanchon, dem Führer der extremen Linken, und Marine Le Pen notfalls für das Rassemblement National entscheiden würden, dessen Ursprünge im traditionellen antisemitischen Lager liegen. Und dann sind da natürlich noch die Chabad- und ultraorthodoxen Juden in Ungarn, die mit Viktor Orbán auf das Engste befreundet sind. Sogar in Deutschland haben Teile der rechtsextremen AfD, die mit Nazi-Anspielungen kokettierten, versucht, Juden in ihr politisches Boot zu holen, weil sie Israel entschieden unterstützen und eine Abneigung gegen Muslime (also nicht nur gegen islamistische Terroristen) hegen.

Österreich scheint im Moment die Ausnahme zu sein. Dort stellen sich Juden klar gegen eine rechtsextreme Partei, die von einem ehemaligen Nazi-General gegründet wurde. Bei dem derzeitigen Rechtsruck in Europa muss man jedoch feststellen, dass die Haltung zu Israel jene Juden, die den europäischen Mitte-links-Parteien (der traditionellen Heimat des europäischen Judentums der Nachkriegszeit) treu geblieben sind, an den Rand gedrängt und sie in eine Minderheitsposition gebracht hat. Dieser Faktor Israel hat auch die traditionelle jüdische Loyalität zum demokratischen Pluralismus und zur Notlage von Einwanderern beeinträchtigt. Die Juden in Europa, unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung, bewegen sich also in einer sehr unübersichtlichen und sogar verzerrten politischen Landschaft.

Um auf die Ereignisse seit dem 7. Oktober zurückzukommen, ist es selbstverständlich, dass Israeli und Juden in der ganzen Welt das Gefühl teilten, dass die Terroranschläge einen existenziellen Wendepunkt markierten. Aber es gab keine Einstimmigkeit über die Richtung der «Wende», ihre möglichen Ergebnisse und Konsequenzen, abgesehen von der Tatsache, dass Israel reagieren musste – aber die Art, die Strategie und das Ausmass der Reaktion spalten weiterhin.

In erster Linie erweckte der 7. Oktober ein entferntes Gespenst wieder zum Leben, von dem man annahm, dass es sich durch die Existenz eines jüdischen Staates selbst in Luft aufgelöst hatte. Der Mord an den meisten Juden seit dem Zweiten Weltkrieg geschah innerhalb Israels. Die Opfer der zaristischen Pogrome im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, die für die zionistische Vision eine so wichtige Rolle spielten, kamen zumindest als Einzelvorfälle zahlenmässig kaum in die Nähe. Das Ergebnis war äusserst destabilisierend: Die jüdische Welt als Ganzes musste schockiert feststellen, dass Israel nicht verhindern konnte, was die raison d›être des jüdischen Staates gewesen war: sicherzustellen, dass die Juden nie wieder der Wut, dem Hass und der Gewalt von Nachbarn oder feindlichen Mächten ausgesetzt sein würden. Mit anderen Worten: Seine existenzielle Rolle als Versicherungspolice für die jüdische Welt wurde in Frage gestellt. Die Israelis waren auch schockiert darüber, dass ihr wichtigster Schutz, die Armee, sie in der Stunde der grössten Not im Stich gelassen hatte.

Das Ergebnis war ein gemeinsames Gefühl, dass die Israeli von neuen Persönlichkeiten mit einem eigenen Staat wieder in die Lage «gefährdeter Juden» zurückgestossen worden waren. Die langfristigen psychologischen Auswirkungen eines solchen Identitätswechsels sind nicht zu unterschätzen. Sowohl unter den europäischen Juden als auch unter den Israelis wurde zum ersten Mal das Unaussprechliche von kleinen einflussreichen Minderheiten still und zuweilen auch offen ausgesprochen: dass nämlich die Existenz des Staates selbst in Gefahr sei, und zwar nicht durch ausländische Mächte wie in der Vergangenheit, sondern durch die unlösbare Palästinafrage. So hat mir ein israelischer Akademiker die Frage gestellt: «Sind wir wieder im Jahr 1948?» – als ob 75 stolze Jahre von Entwicklung und Fortschritten aller Art an Israels Grundproblem unter dem Motto «ein Land für zwei Völker» nicht eine Jota geändert hätten.

Israelflaggen an Regierungsgebäuden
Unmittelbar nach den Anschlägen der Hamas konnten die europäischen Juden über den Schock und den Schmerz hinaus einen gewissen Trost in der Tatsache finden, dass alle grossen europäischen Hauptstädte die israelische Flagge auf ihren ikonischen Denkmälern aufleuchten liessen: das Brandenburger Tor, Big Ben, der Eiffelturm, im Gleichklang mit dem amerikanischen Empire State Building. In diesen ersten Momenten schienen die westliche Welt und alle Juden geschlossen hinter Israel zu stehen und darauf zu warten, dass der jüdische Staat Vergeltung übe für das, was ein ausdrücklicher Angriff auf «Juden» und nicht mehr auf «Zionisten» war. Die Israeli waren in einer gemeinsamen Welle der Wut und des Wunsches nach Rache vereint, und in dem Wunsch, die Existenz der Hamas ein für alle Mal zu beenden.

Ausserhalb Israels mögen die meisten Juden ähnliche Gefühle gehegt haben, aber sie waren auch Opfer einer tief verwurzelten Sorge darüber, dass Israels Vergeltungsmassnahmen gegen die Hamas im Gazastreifen massiv ausfallen, beispiellose Opfer unter der Zivilbevölkerung auf Kosten vieler israelischer Soldaten fordern, die Terrorgruppe wahrscheinlich nicht ausrotten und den Antisemitismus auf dem Kontinent weiter schüren würden, während gleichzeitig die westliche Solidarität auf die Probe gestellt würde. Mit anderen Worten: Die europäischen Juden waren sich der internationalen Folgen des israelischen Vorgehens weitaus stärker bewusst als ihre israelischen und sogar amerikanischen jüdischen Kollegen. Kann man also von einem klaren Unterschied zwischen den Reaktionen der europäischen Juden und denen der Israeli im vergangenen Jahr sprechen?

Ich würde sagen, ja. Zunächst einmal gibt es ein strukturelles Ungleichgewicht. Europäische Juden haben viel mehr familiäre Bindungen zu Israeli als Israeli zu europäischen Juden. Die europäischen Juden sorgen sich um das langfristige Schicksal Israels (und setzen es zum Teil mit ihrem eigenen gleich). Israeli hingegen haben weder Raum noch Zeit noch Lust, sich um die europäischen Juden zu sorgen (die immer noch als verschwindende und irrelevante Grösse wahrgenommen werden), und nur wenige können sich die mögliche Zerstörung des Staates vorstellen. In gewisser Weise bestätigt die Zunahme antisemitischer Vorfälle und des Israel-Hasses nach Israels brutalem Einmarsch in den Gazastreifen nicht nur in Europa, sondern auch in Amerika die vorherrschende Weltsicht der meisten Israeli: dass Israel weiterhin die einzige jüdische Lösung ist.

Dass Israels Handlungen tatsächlich der Motor für einen Grossteil des heutigen Antisemitismus sein könnten, ist etwas, das Israeli nicht in Betracht ziehen, zuzugeben oder gar verarbeiten wollen. Dieser konzeptionelle Unterschied findet sich bei Israeli aller politischen und kulturellen Richtungen, von den Rechtsextremen bis zu den Liberalen. Es war auffallend, dass selbst diejenigen, die Netanyahus Verfassungsreformen im Vorjahr abgelehnt hatten und die den grössten Teil der Menschenmenge ausmachten, die für die Geiseln eintrat und für einen Waffenstillstand mit der Hamas plädierte, diesem Grundproblem gegenüber völlig gleichgültig waren. In beiden Fällen blieben diese jüdischen Gegner von Netanyahus Politik blind oder strikt taub gegenüber den Bedürfnissen und Rechten der israelischen Araber und der Palästinenser in ihrer Mitte (während der Verfassungsproteste) und nach dem 7. Oktober gegenüber der Notlage der Zivilbevölkerung des Gazastreifens in den Trümmern ihrer bombardierten Wohnorte.

Die europäischen Juden konnten allein aufgrund der Tatsache, dass sie inmitten von anderen Gemeinschaften lebten, nicht gleichgültig bleiben. An dieser Stelle sollte man, wie immer, die Positionen der offiziellen jüdischen Gemeinden, die stets vorsichtig und zurückhaltend sind und fast als Sprachrohr Israels fungieren, von einer breiteren jüdischen Meinung unterscheiden. Ob aus humanitären Erwägungen, aus dem Gefühl heraus, dass Israels andauernde Besatzung nach 1967 eine Rolle bei der palästinensischen Gewalt spielte (natürlich ohne die Schrecken des 7. Oktober zu rechtfertigen) oder aus der Erkenntnis heraus, dass Israel langfristig auf westliche Verbündeten in einer immer gleichgültiger werdenden Welt angewiesen sein wird und diese nicht verprellen darf, konnten sich die Juden in ganz Europa gegenüber den internationalen Reaktionen nicht taub stellen. Wieder einmal waren sie hin- und hergerissen zwischen ihrer jüdischen und ihrer pluralistischen demokratischen Zugehörigkeit.

Israel ja, Netanyahu nein
Es ist kein Zufall, dass in den europäischen jüdischen Gemeinden ein direkter Zusammenhang zwischen dem Grad des ruhigen, pluralistischen demokratischen Lebens und der Stärke der abweichenden jüdischen Meinungen in Bezug auf Netanyahus Innenpolitik und militärische Prioritäten seit dem 7. Oktober besteht. Es ist kein Zufall, dass in Grossbritannien laut einer im September veröffentlichten Umfrage des Institute for Jewish Policy Research 80 Prozent der jüdischen Befragten in Grossbritannien Netanyahus Umgang mit dem Gaza-Krieg und dessen Folgen für alle Zivilisten, einschliesslich derer in Gaza, stark missbilligen. Oder dass prominente jüdische Journalisten aufhören würden, für den einst konsensorientierten Jewish Chronicle zu schreiben, dem sie vorwerfen, rechtsextreme israelische Ansichten zu vertreten und mit deren Propaganda hausieren zu gehen. Und das in einem Land, in dem die pro-palästinensischen Proteste massiv waren (und zeitweise sogar von linksgerichteten Juden besucht wurden). Anderswo in Europa sind solche klaren kritischen Positionen möglicherweise schwerer zu finden, vielleicht weil viele Juden die Folgen des islamischen Terrorismus (Frankreich) oder die Rückkehr rechtsextremer Parteien (Deutschland, Österreich) am eigenen Leib erfahren haben oder mit den pro-israelischen, aber von Natur aus antijüdischen Positionen autoritärer Führer wie Orbán in Ungarn nicht einverstanden waren. Eine solche Bruchlinie verlief sogar noch tiefer unter den Juden, die man als «universalistisch» bezeichnen kann und die nicht vor internationalen Anschuldigungen zurückschreckten, dass Israel Verbrechen begeht, die völkermörderischer Natur sind, ohne dass es sich um einen Völkermord in Gaza handelt. Auf einer gemässigteren Ebene waren die meisten Juden in Europa der Ansicht, dass Israel nicht im Alleingang und gegen die Welt vorgehen könne, insbesondere nicht gegenüber seinen westlichen Verbündeten. Sie befürchteten, dass eine solche Haltung auf lange Sicht nur zum Selbstmord führen könnte. In dieser Hinsicht waren sie noch im Einklang mit den Positionen ihrer nichtjüdischen Gesprächspartner oder konnten sie zumindest nicht verwerfen.

Wahrnehmungen, Hoffnungen und Ängste sind ständig im Fluss. In den letzten drei Wochen haben das israelische Militär und der Mossad (die auf tragische Weise nicht auf die Anschläge vom 7. Oktober vorbereitet waren) durch die brillante Zerstörung der Pager und Walkie-Talkies der Hisbollah, die gezielte Ermordung führender Terroristen, einschliesslich Nasrallahs, und nun durch den möglichen direkten Angriff auf den Iran gezeigt, dass sie immer noch ihren alten «Funken» besitzen. Dies hat in der jüdischen Welt einen Hoffnungsschimmer aufkommen lassen, dass Israel noch immer die Kontrolle hat.

Es ist viel, viel zu früh dafür, in solchen Ideen Trost zu suchen. Die Israeli sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Mit den Anschlägen vom 7. Oktober sind sie zu bedrohten Juden in ihrem eigenen Land geworden (an der Grenze zum Libanon oder wie in Jaffa, wo mehrere bei Strassenanschlägen ermordet wurden). Israel ist von Feinden umgeben, die viel furchterregender und unerbittlicher sind als die Einzelpersonen und Gruppen, die in ganz Europa antisemitische Anschläge verüben. Wenn doch nur die europäischen Juden, die gemässigtere Positionen jenseits der «Israel-ist-richtig-oder-falsch»-Sprechchöre vertreten, Gehör finden und Koalitionen mit ihren amerikanischen und israelischen Kollegen bilden könnten. Wenn die Israeli doch nur verstehen könnten, dass dieser Schrecken kein Ende nehmen wird, ohne dass das Kernproblem der Palästinenser angegangen wird. Wenn nur... – tragische Zeiten.

Diana Pinto