jüdische gemeinden 10. Okt 2024

Rückbesinnung auf das eigene Volk

Rabbinerin Diana Fersko: «Meine Grundlagen sind die Thora und andere heilige Schriften.»

Rabbinerin Diana Fersko hat kurz vor dem 7. Oktober 2023 das Buch «We Need to Talk About Antisemitism» publiziert. Sie diskutiert die Lage ihrer Gemeinde in Lower Manhattan – aber auch der amerikanischen Juden insgesamt. 


aufbau: Frau Fersko, Sie sind seit 2020 «Senior Rabbi» und damit geistliche Leiterin desVillage Temple, der Reformsynagoge unterhalb des Union Square in Lower Manhattan. Was ist das für eine Gemeinde?
Rabbinerin Diana Fersko: Der Village Temple wurde 1948 gegründet, und unsere Nachbarschaft war schon damals sehr weltoffen, kreativ, lebhaft – und politisch eher links. Es leben viele Künstler hier. Unsere Synagoge reflektiert all das. Was uns von anderen Gemeinden selbst in Manhattan unterscheidet, ist ein hoher Anteil junger Familien. Die Nachbarschaft ist beliebt, hat gute öffentliche Schulen und zieht jüngere Menschen an. Damit sind wir in einer glücklichen Lage. Denn bei vielen Gemeinden in den USA liegt der Altersdurchschnitt deutlich höher. Ich selbst bin in New Haven, Connecticut, aufgewachsen und war zuvor an der Stephen Wise Free Synagogue in Manhattan tätig.


Wie würden Sie Ihre Mission als Rabbinerin beschreiben?
Ich habe mir immer gewünscht, an einem Ort wie dem Village Temple zu wirken. Aber grundsätzlich ist mein Ziel, Juden unserem Glauben näherzubringen. Und das kann ich hier jeden Tag tun. Denn Vielfalt, Debatte, der Austausch von Argumenten und eine dialektische Auslotung schwieriger Fragen bilden den Kern jüdischer Werte. Sie können jede Seite des Talmuds aufschlagen und zahlreiche Rabbiner bringen dazu gegensätzliche Lesarten vor, die häufig unauflösbar sind. Mir wird tatsächlich etwas unbehaglich, wenn sich zahlreiche Juden in einer Sache einig sind. Also: Ja, wir sind eine sehr vielfältige Gemeinde und ich betrachte das als Quelle von Kraft und bin darauf stolz.


Zu Ihrer Arbeit gehört auch der Kontakt zu Israel. Im März haben Sie und Mitglieder Ihrer Gemeinde den jüdischen Staat besucht.
Wir haben darüber für die ganze Gemeinde ausführlich auf unserer Website berichtet. Israel war und bleibt mir persönlich immer sehr wichtig. Das ist Teil meines jüdischen Selbstverständnisses. Heute ist es noch wichtiger, das durch persönliche Besuche auszudrücken. Wir wollten dem Volk Israels Unterstützung geben, praktisch helfen, trösten. Und natürlich lernen. Wir haben viele Fragen gestellt und Menschen quer durch das politische Spektrum getroffen, dazu Militärs, Politiker und Journalisten. Wir sind hinunter in den Süden gefahren, wo die Hamas mehrere Kibbuzim angegriffen hat, und waren auch am Standort des Nova-Musikfestivals. Und natürlich haben wir eine Vielzahl von Standpunkten gehört. Das war schon sehr eindrücklich und bedeutsam. Wir konnten Zeugen der Leiden unseres Volkes werden.


Natürlich haben diese Besuche in Israel Tradition für jüdische Gemeinden hier.
Für mich war es der erste Besuch als Rabbinerin am Village Temple. Zuvor konnten wir wegen Covid nicht reisen. Aber ich habe Israel schon als Heranwachsende und dann bei meiner ersten Stelle als Rabbinerin besucht.


Wie haben Sie den 7. Oktober persönlich erlebt?
Die Terrorattacke kam an einem Schabbat. In der Nacht zuvor haben wir Simchat Thora begangen. Jung und Alt haben zur «Feier der Thora» getanzt. Nach diesem Fest jüdischer Freude bin ich am Schabbat-Morgen aufgewacht und mein Mann sagte mir, in Israel sei irgendetwas Schlimmes passiert. Was genau, war zunächst nicht klar. Und so bin ich wie immer am Samstagmorgen hierher gegangen, in den Tempel. Ich habe eine Bat Mizwa zelebriert und von der Bima gesagt: «Unsere Herzen sind mit unseren Brüdern und Schwestern in Israel». Aber ich konnte die Geschehnisse nicht wirklich verstehen – und eigentlich geht mir das immer noch so. Denn ich hatte mit der Überzeugung gelebt, dass Israel, der Staat Israel, ein für alle Mal Pogrome beendet hat. Dass diese Zeiten vorüber waren. Der 7. Oktober hat diese Gewissheit zerstört. Aber nicht nur das.


Sondern?
Sondern auch meine ganze Idee, wie ich mich als Jüdin selbst betrachte. Denn nun war ein Pogrom geschehen. Und die Hamas hält immer noch Geiseln in ihren Tunneln gefangen. Das schockiert mich. Denn ich habe während des Libanon-Krieges von 2006 in Israel gelebt. Ich war mir der Gewalt um mich herum seinerzeit ganz bewusst. Aber trotzdem habe ich mich immer in Sicherheit gewähnt. Denn Israel war sicher und würde mich und alle Juden weltweit beschützen. Und diese Sicherheit ist am 7. Oktober verloren gegangen. Und dann kochte dieser Antisemitismus hoch und machte das Gefühl der Verunsicherung noch viel, viel schlimmer. Das Wort «Sicherheit» hat für uns hier ansonsten eine weniger dramatische Bedeutung.


Sie meinen Begriffe wie «Job-Sicherheit»?
Oder ob der Schulweg unserer Kinder sicher ist. Aber jetzt hören wir auf einmal von einer tödlichen Bedrohung unseres Volkes. Und das an einem ganz normalen Tag hier. Das ist meine persönliche Reaktion. Aber der 7. Oktober hat jüdische Amerikaner mit Fragen konfrontiert, die sie sich zuvor nicht stellen mussten. In der Gemeinschaft herrscht ein tiefes Gefühl von Verlust, sogar von Verrat. Wir sind von Menschen enttäuscht worden, von denen wir Unterstützung erwartet, aber nicht bekommen haben. Dazu kamen Entrüstung und Zorn: etwa auf das Universitätssystem unserer Jugend. Das ist eine enorme, schmerzhafte Belastung für unsere Gemeinschaft. Obendrein hat das öffentliche Schulwesen kein Verständnis dafür, was Antisemitismus eigentlich ist. Aber in diesem Jahr seit dem 7. Oktober habe ich auch ein immenses Mass an Beharrlichkeit und Widerstandskraft in der jüdischen Gemeinschaft erlebt – dazu Einigkeit und Klarheit. Denn dem ersten Schock sind rasch Tatkraft und Aktivität gefolgt. Jüdinnen und Juden krempeln die Ärmel auf, um Israel zu unterstützen, kämpfen gegen den Antisemitismus hier an und tun, was sie für richtig und gerecht in dieser Welt halten.


Von einer Rückbesinnung auf jüdische Werte und Gemeinschaft ist viel zu hören.
Wir Juden sind eben eine sehr kleine Gemeinschaft. Der Terror hat jede und jeden von uns mehr oder weniger persönlich berührt. Die breite Bevölkerung mag nicht immer verstehen, dass jüdisch Sein für uns bedeutet, dass wir Teil einer Familie sind. Und wenn einem Mitglied etwas zustösst, dann tut das uns allen weh. Oft genug sind Angehörige im engeren Sinn betroffen.


Wie am 7. Oktober.
Diese Erfahrung hat uns einander noch näher gebracht. Wir teilen unsere Trauer.


Aber ungestört ist Ihre Gemeinde dabei kaum, oder? Schon wegen Ihres Standorts nahe der New York University. Auch dort gab es ja heftige Demonstrationen gegen die Kriegsführung der IDF in Gaza.
Ja, die New York University (NYU) liegt ein paar Blocks entfernt. Viele unserer Mitglieder arbeiten dort oder an Columbia im Norden von Manhattan. Junge Leute aus der Gemeinde studieren an diesen Universitäten, oder besuchen Schulen in der Umgebung. Etliche Mitglieder leben auch in Wohnungen der NYU in der Nachbarschaft. Und so haben sie nicht nur den Hass von Demonstranten gegen Juden erlebt. Direkt unter ihren Wohnungen haben Protestierende Zelte aufgeschlagen. So mussten auch kleine Kinder aus der Gemeinde rund um die Uhr teilweise übelste Hassreden gegen Juden hören. Das ist die Luft, die wir atmen – und das nun schon eine ziemliche Zeit lang. Allerdings hat zumindest die NYU inzwischen Fortschritte bei der Eindämmung dieser Ausschreitungen gemacht. Aber dieses Gefühl, gerade hier frei und ungezwungen als Juden leben zu können, das ist weg.


Da erscheinen Debatten etwa über den Unterschied zwischen Antisemitismus und Antizionismus als ziemlich abstrakt, oder?
Ich halte das nicht für eine fruchtbare Frage. Diese Fixierung darauf kommt mir seltsam vor. Denn letztlich zählt die Wirkung von Äusserungen. Und diese Debatte trägt zu einer feindseligen Atmosphäre gegenüber Juden hier bei und hindert uns an unserer freien Selbstentfaltung auch in einem religiösen Sinn und als Gemeinschaft. Gleichzeitig hat diese Debatte keinerlei Einfluss auf das Vorgehen der IDF. Was soll das also?


Aber damit ist die Gleichsetzung von Juden und Israel ja nicht vom Tisch. Wo läuft das hin?
Wir sehen auf jeden Fall, dass Juden auch jetzt im Kampf gegen Antisemitismus ihr Judentum erst recht hochhalten und sich darauf besinnen. Das mag seltsam wirken – warum nicht vor dieser schrecklichen, weithin kritisierten Sache weglaufen? Und sich in Sicherheit bringen? Aber stattdessen bringen sich Juden im Gemeindeleben ein oder engagieren sich noch stärker. Das ist ganz konkret. Bei Synagogen wächst die Zahl der Mitglieder. Die Feriencamps erlebten heuer geradezu einen Ansturm und die Plätze in jüdischen Tagesschulen werden knapp. Zu mir kommen Leute und sagen: «Ich war nie ein Gemeinde-Jude – aber ich fühle ich mich dazu hingezogen.» Juden wenden sich nach innen und besinnen sich zurück auf ihr eigenes Volk. Das hat längerfristige Konsequenzen.


Inwiefern?
Diese Rückbesinnung macht Juden selbstbewusster, hebt ihren Geist. Das heisst aber nicht, dass Debatten über politische Vorgänge in Israel – etwa im Zusammenhang mit der «Justizreform» – oder über das Vorgehen der IDF in Gaza aufhören. Denn das wäre ungesund. Ich halte Kritik an Israel nicht für automatisch antisemitisch. Und dort laufen bekanntlich ständig Debatten über jedes nur denkbare Thema. Aber hier schleichen sich bei Auseinandersetzungen über Israel schon auch mittelalterliche Klischees ein, wie etwa Juden seien unnötig grausam und blutgierig, besonders nach Blut von Kindern. Denn viele Berichte über den Gaza-Krieg setzen einfach bei der Reaktion der IDF ein und blenden das Massaker vom 7. Oktober aus. Wer denkt, dass er besser über Kriegsführung Bescheid weiss als die IDF, kann das gerne vorbringen. Aber man sollte nicht so tun, als ob der 7. Oktober nie geschehen wäre. Das ist für mich inakzeptabel.


Sie haben wenige Wochen vor dem 7. Oktober das Buch «We Need to Talk About Antisemitism» publiziert, das diesen Hass als einen Versuch darstellt, «Juden einzuengen», zu reduzieren.
Ja, mit dem Buch will ich Menschen ein Vokabular für den Umgang mit dem heutigen Antisemitismus an die Hand geben. Denn da gibt es neue Entwicklungen. Dabei hilft jedoch eine Rückbesinnung auf die Entstehungsgeschichte des jüdischen Volks mit dem Auszug aus Ägypten – von der Sklaverei zur Freiheit. Im Buch «Exodus» wird Ägypten «der enge Ort» genannt. Denn dort wurden wir nicht als Volk anerkannt, sondern wurden zu Sklaven reduziert. Als Metapher betrachtet, geschieht das heute: Juden werden von aussen in Konzepte gepresst. Wie diese Vorstellung, alle gehörten der gleichen Rasse an, seien reich oder etwa gut in Mathematik. Leute wollen, dass Juden ihren Vorstellungen über Juden entsprechen. Und damit werden Juden als Volk reduziert und ihrer Menschlichkeit beraubt – als ob wir nicht über Jahrtausende im Nahen Osten gelebt hätten, vom Jemen über Syrien bis zum Iran. Den Begriff «Rasse» haben ja die Nazis benutzt und damit ihren Völkermord begründet. Und so wird verneint, das Juden aus allen Weltecken stammen, jeder Schicht angehören können. Gerade hier in New York leben viele in Armut.


Sie gebrauchen zudem den Begriff «Virus», um Judenhass zu definieren. Das erinnert an Theorien von Terrorexperten wie Bruce Hoffman, die Rassismus und Antisemitismus als geistige Viren betrachten, die heute nicht zuletzt im Internet flottieren und sich dann bei besonders dafür anfälligen Leuten festsetzen.
Bei Antisemitismus ist so besonders verwirrend und empörend, dass diese Denkweise sich über alle Grenzen zwischen Kulturen, Geschichte und Regionen hinweg bei allen möglichen Menschen festsetzen kann.


Laut Hoffman wirkt Antisemitismus auch als Kitt, um etwa den Rassenhass auf Schwarze hier mit anderen Ressentiments zu verbinden.
Antisemitismus schafft Gemeinsamkeit unter Hassern und kann eine politische Basis mobilisieren.


An Ihrem Buch fällt jedoch auf, dass Sie die Tagespolitik meiden. Dabei gäbe Donald Trump mit seinen zunehmend aggressiven Reden über Juden, die ihn angeblich mit ihrer Loyalität zu den Demokraten den Wahlsieg kosten könnten, dazu reichlich Material her.
Kommentare über Politiker gehören nicht zu meiner öffentlichen Rolle. Für mich ist Judentum die erste, grundlegende Ebene meiner Identität. Dass ich eine Frau bin, Rabbinerin oder politische Überzeugungen habe, ist nachgeordnet. Das ist nicht jedermanns Perspektive. Aber historisch waren bestimmte Parteien während bestimmter Zeiten gut für Juden – oder auch nicht. Von daher gehört eine politische Flexibilität zum Judentum.


… das Sie als eine moralische und prinzipielle Grundlage Ihrer Existenz sehen?
Als meinen Standort. Judentum ist für mich keine politische Linse, sondern das Fundament meiner sämtlichen Entscheidungen, ob in der Politik oder im Leben. Antisemitismus kommt heute von links und rechts, wobei die Rechte direkt in der Tradition der Nazis steht. Rassistischer Judenhass war zentral für deren Ideologie. Aber ich habe mein Buch geschrieben, um Juden gerade über Antisemitismus in linken Kreisen in ihrem Glauben und ihrer Identität zu bestärken. Denn von daher kamen die Anstösse für das Buch. Ich habe zehn Jahre lang immer wieder von Bekannten oder Gemeindemitgliedern über feindselige Äusserungen oder Verhaltensweisen von links an Schulen, Unis, im Berufsleben oder beim persönlichen Umgang gegenüber Juden gehört.Darüber wurde kaum gesprochen. Aber wenn ich das selbst erwähnt habe, brachen diese Geschichten geradezu aus Leuten heraus. Das Buch will darauf Antworten bieten.


Vor zehn Jahren hatte Amerika die grosse Rezession und das Platzen der Immobilienblase 2007–2009 mit dramatischer Arbeitslosigkeit gerade überwunden. Haben diese wirtschaftlichen Probleme Judenhass angeheizt?
Das ist eine geläufige Erklärung und mag schon zutreffen. Aber ich kann dazu letztlich keine umfassende Antwort geben. Ich weiss nur, dass ich vor einigen Jahren auch Widerspruch geerntet habe, wenn ich von der Bima aus über wachsenden Antisemitismus gesprochen habe: Viele hielten das damals für ein längst überwundenes Problem vergangener Zeiten. Immerhin sind die Hürden vor Juden etwa beim Immobilienkauf oder dem Zugang zu Universitäten, Stellen und Clubs seit den 1970er Jahren verschwunden. Antisemitismus gab es nur noch in Holocaust- Museen oder im Kino zu sehen. Ausserdem dachten viele Juden, dieser Hass könne keine Priorität mehr sein – Klimawandel oder Hass auf Schwarze oder Frauen seien dringendere Probleme. Und darüber spreche ich natürlich auch. Aber dann habe ich etwa von Eltern gehört, dass Schulverwaltungen «Affinitäts-gruppen» gründen wollten.


Also für Schulkinder aus bestimmten Milieus?
Ja – aber Gemeindemitglieder bekamen zu hören, für eine jüdische «Affinitätsgruppe» sei die Zeit noch nicht gekommen, oder das würde einen «schlechten Eindruck machen». Und dann kam der 7. Oktober und hat Antisemitismus wirklich an die Oberfläche gespült.


Aber gleichzeitig zerrt die Politik doch auch an der jüdischen Gemeinschaft. Und nicht zuletzt Donald Trump redet jüdisches Wahlverhalten und eine angeblich mangelnde Loyalität von Juden zu Israel hoch. Neuerdings will er Juden sogar die Verantwortung für eine allfällige Niederlage am 5. November zuschieben.
Das trifft sicher zu, wobei ich erneut einen hohen Anteil von bis zu 80 Prozent jüdischer Stimmen für die Demokraten erwarte. Aber gleichzeitig ist es schon irritierend, dass Juden bei diesen Wahlen derart in den Schlagzeilen stehen. Als ob wir das Zentrum des Universums bildeten und als ob Gaza der einzige Kriegsschauplatz sei – und es keine Konflikte im Sudan oder der Ukraine gäbe. Aber in der Politik werden Juden eben als Thema für andere Zwecke missbraucht. Und ich stehe als Rabbinerin nicht in der politischen Arena. Meine Grundlage sind die Thora und andere heilige Schriften. Das ist meine Ideologie.

Andreas Mink