usa und israel 10. Okt 2024

Washington als Freund und Helfer

Mit der Liquidierung von Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah Ende September holt Israel zur Zerstörung des gefährlichsten Gegners an den Grenzen aus. Ohne Unterstützung der USA wäre dies nicht möglich. 

Die laufende Eskalation nach der Liquidierung von Hassan Nasrallah, dem Einmarsch der IDF im Libanon und iranischen Raketenangriffen auf Israel macht deutlich: Trotz Differenzen ziehen die USA und Israel an einem Strang. Wenn auch mit unterschiedlichen Zielen. 

Die Schlagzeile klang vertraut: «Schläge gegen die Hisbollah vertiefen Entkopplung zwischen Biden und Netanyahu» titelte etwa die «New York Times» nach der Liquidierung des Hisbollah-Chefs Nasrallah durch die israelische Luftwaffe. Aber die Idee, dass der US-Präsident schon seit dem 8. Oktober 2023 «vor Wut kocht» und zugleich «hilflos zuschaut», während der israelische Premier angeblich ohne Absprache mit ihm operiert, einen Waffenstillstand mit den Terroristen hinauszögert und die Zerstörung Gazas vorantreibt – diese Vorstellung ist spätestens seit der Liquidierung Nasrallahs nicht mehr haltbar. Zugleich ist mit dem Vorstoss israelischer Truppen in den Süden Libanons und den iranischen Raketenangriffen auf Israel die seit einem Jahr weithin befürchtete «Eskalation zu einem regionalen Krieg» Anfang Oktober vollends Tatsache geworden. Obwohl nun eine weitere Steigerung bis hin zu umfassenden Attacken der IDF – und womöglich der USA – auf Iran im Raum steht, heisst der Gewinner dabei bislang Israel. Teheran droht inzwischen auch mit der Zerstörung von Ölfeldern und der dazu gehörenden Infrastruktur in arabischen Golfstaaten. Aber ohne gezielte amerikanische Unterstützung weit hinaus über die 80 «Bunkerknacker-Bomben» für die Liquidierung Nasrallahs hätte es nie so weit kommen können. Dafür sprachen schon vor Monaten Berichte (auch aus der «Times») über die enge Zusammenarbeit amerikanischer und israelischer Spezialisten bei der Jagd auf den Hamas-Kommandeur Sinwar in den Tunneln von Gaza.

Die Kehrtwende
Dabei war die Auslösung eines regionalen Kriegs zwischen Israel und der in Teheran zentrierten «Achse des Widerstandes» das eigentliche Ziel der Hamas-Attacken am 7. Oktober. Denn dass Israel «disproportional» gerade auf einen derart barbarischen Überfall mit vernichtender Gewalt reagieren würde, steht spätestens seit den 1950er Jahren als ein Grundmuster des Nahostkonflikts fest. Nur lief die Eskalation eben nicht auf die von Hamas erhoffte Schwächung oder Zerstörung des «zionistischen Gebildes» hinaus, sondern in die gegenteilige Richtung. Teheran nahm über Monate zunehmend harte und demütigende Schläge gegen eigene Militärs, den als Gast in Teheran weilenden Hamas-Chef Ismail Haniyeh, Nuklearanlagen oder die Treibstoff-Infrastruktur, aber auch systematische Attacken auf die Hisbollah und eigene Stützpunkte und Verbündete in Syrien relativ passiv hin. Israel hat derweil Gaza in eine unbewohnbare Trümmerlandschaft verwandelt und treibt die Zerstörung der palästinensischen Infrastruktur auf der Westbank voran. Dort fielen Hunderte von Palästinensern der Gewalt von Militärs und Siedlern zum Opfer, während die Angriffe der IDF auf Gaza über 40 000 palästinensische Leben gefordert haben.

All dies, während Biden «rote Linien» in Gaza zog und dann wieder vergessen hat und Tony Blinken durch die Region flog, um einen Waffenstillstand in Gaza, die Freilassung der Geiseln und neuerdings eine «Deeskalation» an der Nordgrenze Israels zu vermitteln. Gleichzeitig hat Washington synchron mit dem Vorgehen der IDF eine immense Militärmacht in der Region aufgefahren, Israel mit Waffen für die zunehmende Eskalation versorgt und Netanyahu Rückendeckung in der UNO und gegenüber internationalen Strafgerichten geboten. Diese Dissonanz durch eine «Schwäche Amerikas», sentimentale Sympathien des selbsterklärten Zionisten Biden oder die Macht jüdischer Spender und Organisationen in Washington zu erklären, ist bestenfalls albern. Eher aber so stossend wie das Hirngespinst einer irgendwie doch noch durch Amerika in Kooperation mit «pragmatischen Palästinensern» und «weltoffenen arabischen Staaten wie dem saudischen Königreich» aufgleisbare «Zweistaatenlösung». Davon fabulierte Tom Friedman noch Stunden vor der Libanon-Invasion in der «New York Times».

Versailler Friedenskonferenz
Simpler und realistischer wäre die Erklärung, dass die Biden-Regierung und Netanyahu an einem Strang ziehen, wenn auch mit unterschiedlichen Absichten: Freie Hand in Gaza, auf der Westbank und nun womöglich auch bis zum Litani-Fluss im Libanon für Israel gegen die nachhaltige Schwächung Irans als Teil einer Amerika nicht genehmen Allianz mit China, Nordkorea und Russland. Zionisten haben die Eingliederung des wasserreichen Südlibanon inklusive der Stadt Sidon in einen jüdischen Staat in Palästina bereits 1919 auf einer vielzitierten Karte für die Versailler Friedenskonferenz festgehalten. Dieser Entwurf sah zudem Staatsgrenzen vom Mittelmeer weit über den Jordan bis tief hinein in das heutige Königreich Jordanien und im Norden über den Golan hinaus bis nahe Damaskus vor.

Washington verfolgt derweil das grössere Ziel, das Vordringen einer Zweckallianz aus Iran, Russland und China zu verhindern und obendrein der Region und der übrigen Welt die Dominanz amerikanischer Rüstungstechnologie und Militärmacht zu demonstrieren. Dies geht aus einem aktuellen Grundsatz-Essay von Blinken in «Foreign Affairs» über die Aussenpolitik der Biden-Regierung als Restauration der amerikanischen Hegemonie weltweit gegen die «revisionistischen Mächte Russland, Nordkorea, Iran und China» hervor. Blinken nennt dabei als erstes Ziel die Erneuerung der «militärischen Überlegenheit» der USA weltweit. Klingt dies für einen Chefdiplomaten merkwürdig, so trifft die Betonung des Militärs das Agieren Amerikas vor allem seit 9/11 im Kern.

Denn eigentlich hat der «Global War on Terror» nie aufgehört. Dabei nahmen die Neocons um den jüngeren Bush frühzeitig auch die Islamische Republik ins Visier. Netanyahu hat sich 2002 an einem seiner Auftritte vor dem US-Kongress für die Irak-Invasion stark gemacht, die nicht allein das Atomarsenal Saddam Husseins unschädlich, sondern auch einen «Aufstand junger Iraner gegen die Despoten im Nachbarland auslösen» würde(https://www.vox.com/2015/2/26/8114221/netanyahu-iraq-2002). Tatsächlich hat der Einmarsch den stärksten Gegner Teherans in der muslimischen Welt beseitigt und der Islamischen Republik ganz neue Spielräume eröffnet, angefangen von Landverbindungen über Irak nach Syrien und den Libanon. Blinken sieht dennoch keinen Anlass für Diplomatie. Zumindest verliert er in seinem neuen Essay kein Wort zu einem umfassenden Ausgleich mit Iran im Zusammenhang mit einer langfristigen Befriedung des Nahen und Mittleren Ostens, die natürlich ohne Einbeziehung Chinas und Russlands niemals zu erreichen wäre.

Angesichts des Debakels der USA in Afghanistan, den niederschwelligen Konflikten mit Schiiten-Milizen im Irak oder dem eskalierenden Schlagabtausch mit den Huthis wirkt dieses auf Dominanzstreben gebaute Konzept als Garant für endlose, zermürbende Konfrontationen. Damit sind die USA selbst nicht gut gefahren. Schliesslich hat Trump aus seiner Verdammung der «Forever Wars» nach 9/11 sehr viel Energie und Zuspruch bei der amerikanischen Bevölkerung gezogen. Aber statt Stärke bei Militär, Technologie und Wirtschaft als Hebel für Diplomatie fruchtbar zu machen, bleibt amerikanische Hegemonie für Biden und Blinken (und wohl auch Kamala Harris) anscheinend der Leitstern.

Denn vor dem 7. Oktober wurde dieser auf den Zweiten Weltkrieg zurückgehende und in den 1970er Jahren durch die «Carter-Doktrin» festgeschriebene Hegemonialanspruch gerade in Nahost zunehmend bedroht: durch eine womöglich von China vermittelte «Normalisierung» zwischen Iran, den Saudis und anderen arabischen Staaten wie Ägypten; die Rückkehr Syriens in die Arabische Liga; zunehmend enge Verbindungen Chinas mit Iran, aber auch arabischen Ölstaaten – und Israel –; sowie die immer intensivere Kooperation Teherans mit Moskau auf dem Rüstungssektor für den Ukraine-Krieg. Womöglich sehen Entscheidungsträger in Washington ihre Unterstützung für Israel auch als Mittel, den jüdischen Staat von Alleingängen in Richtung engerer Zusammenarbeit mit China auf wirtschaftlichem Gebiet abzuhalten. Denn wenn das Nachspiel des 7. Oktober eines klar gemacht hat, dann die militärische Abhängigkeit Israels von den USA.

Zurückhaltung für Endspurt
Was den Iran angeht, so liesse sich die monatelange Zurückhaltung durch den Schock einer tiefen Durchdringung des eigenen Systems durch israelische und amerikanische Geheimdienste und die Erkenntnis erklären, dass die «Achse des Widerstandes» den USA und Israel militärisch in keinster Weise gewachsen ist. Dazu könnte aber die Kalkulation gekommen sein, durch Zurückhaltung die für einen Endspurt zu Atomwaffen notwendige Zeit kaufen zu können. Dies wurde natürlich auch in Israel gesehen und erklärt die Videobotschaft Netanyahus an das «persische Volk» wenige Stunden vor der Bodeninvasion im Libanon, wonach dem «Regime» ein unerwartet baldiges Ende drohe und danach ein allseits erquicklicher Friede in der Region einziehen werde. Die Botschaft klingt auch wie ein fernes Echo seines Plädoyers für die Irak-Invasion vor 22 Jahren.

Von daher war eine weitere Eskalation der israelischen Angriffe auf die Hisbollah im Libanon und womöglich bald auch auf das von Iran und Schiiten-Milizen gestützte Assad-Regime in Syrien zu erwarten. Dies mit dem Ziel, doch noch eine militärische Reaktion Irans auszulösen – und dann zur Zerstörung der Atomanlagen und womöglich zum Regimewechsel anzusetzen. Attacken Israels auf Syrien laufen bekanntlich seit Jahren, werden aber seit dem Frühjahr immer härter. Laut unbestätigten Berichten auf Social Media gipfelte dies Ende September womöglich in der Liquidierung des Generalmajors Maher al-Assad durch einen Luftangriff. Der Bruder des Präsidenten war einer der brutalsten Kommandeure im Bürgerkrieg und wirkte dabei eng mit Iran zusammen (https://x.com/RealBababanaras/status/ 1840591213163954510).

Damit steht die Frage nach der Haltung Russlands und Chinas im Raum. Denn es kann beiden Mächten nicht passen, dass die USA und Israel der Islamischen Republik die Krallen stutzen oder sogar einen Regimewechsel betreiben. Bemerkenswert ist hier zudem das immer noch relativ zurückhaltende Agieren Bidens bei Waffenlieferungen an die Ukraine. Aber eine Einhegung und Schwächung Russlands unter Vermeidung eines direkten Grossmachtkonfliktes stünde in der Tradition des Kalten Krieges, mit der Biden aufgewachsen ist. Dass er seit seiner Amtsübernahme nach diesem Muster global eine neue Frontbildung gegenüber China und mit Beijing liierten Staaten betreibt, liegt auf der Hand. Dazu zählen auch die immensen Investitionen in die Modernisierung der amerikanischen Infrastruktur und des HighTech-Sektors, die Biden kunstvoll im US-Kongress durchgesetzt hat. Langfristig soll dies innere Spaltungen überwinden, neuen Wohlstand schaffen und die globale Vormachtstellung Amerikas renovieren und sichern. Genau diese Zusammenhänge legt Blinken nun in seinem Essay dar.

Flüchtlingswelle aus der Levante
So braucht es wenig Fantasie, um bald auch einen Schwenk der israelischen Offensive gegen Syrien zu erwarten. Geht man einen Schritt zurück und nimmt dazu die Verheerung Gazas, den dramatisch zunehmenden Druck auf die Palästinenser in «Judäa und Samaria» und die immer lauteren Rufe von Nationalreligiösen nach einer Vertreibung der Araber in den Blick – dann erscheint Syrien zudem als einzig denkbares Ziel für einen «Transfer» von Palästinensern aus dem Land «zwischen Meer und Fluss». Auf der vonNetanyahu neuerdings gezeigten Karte der Region sind die Palästinensergebiete in Cisjordanien bereits nicht mehr eingezeichnet.Assad könnte sich gegen einen solchen «Transfer» kaum wehren. Aber bereits die Massenflucht von Libanesen aus dem Süden ihres Landes macht eine neue Flüchtlingswelle aus der Levante nach Europa denkbar.

Kommen dazu Hunderttausende vertriebener Palästinenser, stünde etwa in Deutschland nach den nächsten Bundestagswahlen eine AfD- oder eine Regierung aus AfD und dem Bündnis Sarah Wagenknecht vor anspruchsvollen Herausforderungen. Wie würde eine solche nationalistisch-sozialistische Koalition einen «Schlussstrich unter den Holocaust» mit Unterstützung Israels – und womöglich Putins – vereinbaren? Und sollen nur Muslime ausgeschafft werden, oder würde auch christlich-arabischen Flüchtlingen ein zwangsweiser Rückflug in die Levante drohen?

Näher liegt indes die Frage, was Israel mit den bisherigen Erfolgen gegen die Hisbollah anzufangen gedenkt. Hier lohnt ein Blick auf deren Genese. Die totalitäre Schiiten-Miliz mag vor 40 Jahren im armen Süden des Libanon mit Unterstützung der jungen, damals schwer von Saddam Husseins Irak (der von den USA und anderen Nato-Staaten unterstützt wurde) bedrängten Islamischen Republik entstanden sein. Aber ohne die erste Libanon-Invasion Israels hätte ein solcher auf Glaube und Opferbereitschaft fundierender «Widerstand» keine Massenbasis entwickeln können. Damit hat die «Partei Gottes» Israel zur Jahrtausendwende schliesslich zum Abzug bewegt. Netanyahu doppelt hier also auch nach und versucht, den durch Israels Handeln angestossenen «Widerstand» doch noch zu brechen. Ob dies fruchtet oder früher oder später eine weitere Nachdoppelung «notwendig» wird, hängt jedoch nicht allein von Israel ab. Denn eine nachhaltige Schwächung oder gar Zerstückelung des Libanon und auch Syriens könnte zumindest die Türkei auf den Plan rufen.

Denn dort bleibt die Zerstückelung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg unvergessen. Von der nun syrischen Provinz Alexandretta am Mittelmeer über Kurdengebiete entlang der heutigen Südgrenze bis hin zur ehemaligen Provinz Mosul im Irak könnten «revisionistischen» Gebietsansprüchen und -Eroberungen keine Grenzen gesetzt sein. Das durch das Sykes-Picot-Abkommen von 1916 geschaffene Staatensystem in Nahost stünde damit vor dem Zusammenbruch. Zu dessen Neuordnung dürfte sogar einem von Grund auf renovierten Amerika die Kraft – oder auch nur das Interesse – fehlen. Vorderhand bleiben jedoch die konkreten Ziele von Biden und Blinken in der laufenden Krise unklar: Steht ein Regimewechsel in Teheran auf dem Programm oder nicht?

Andreas Mink