literatur 10. Okt 2024

Wurzeln in Ružomberok

Vladimir Roth auf einer Aufnahme aus dem Jahr 2022.

Vladimir Roth hat das Tagebuch seiner Mutter Eva Neufeldová aus den Jahren 1940–1942 übersetzt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht – ein wertvolles Dokument für Forschung und Geschichtsinteressierte. 

Im April nahmen Angehörige und Freunde bei einer Feier im Temple Israel in Akron, Ohio, Abschied von Vladimir Roth, der am 19. Februar an seinem dortigen Wohnsitz im Kreis von Angehörigen einer degenerativen Lungenkrankheit erlegen war. Roth dürfte dem Publikum der Zeitschrift aufbau (4/2022) bekannt sein, die im folgenden Jahr mit einem European Publishing Award ausgezeichnet worden ist. Das Heft ist dem Tagebuch von Eva Neufeldová aus den Jahren 1940–1942 gewidmet, der Mutter von Roth und seiner Schwester Tanja Lamprecht. Sie war in der kleinen Stadt Ružomberok im Zentrum der Slowakei zuhause. Lamprecht hat das Dokument erst 2019 und damit lange nach dem Tod der Mutter im Jahr 2003 zwischen anderen Papieren entdeckt. Neufeldová war seinerzeit um die 18 und hatte ihre Eindrücke auf Russisch in einem Schulheft festgehalten.

Das Tagebuch fällt damit unter historische Dokumente, die zunehmend Beachtung finden. Roth hat den Text ins Englische und dann ins Slowakische übertragen. Er konnte nach der Publikation der kompletten deutschen Übersetzung auch die Herausgabe einer englischsprachigen Version als Buch erleben und noch Kontakte für eine Publikation in der Slowakei aufnehmen.

Bei einem Besuch in Akron wenige Tage vor seinem Hinscheiden wirkte Roth schwer von dem Lungenleiden niedergedrückt, aber gefasst und mitunter auch heiter. Er sah von dem Krankenlager auf die Wand mit Familienbildern in seinem Wohnzimmer, darunter Aufnahmen aus der klerikal-faschistischen Slowakei im Zweiten Weltkrieg. Roth kam 1947 zur Welt und die Familiengeschichte war ihm ausserordentlich wichtig. Das wurde in Akron im Gespräch mit seiner geschiedenen Frau Marta – die ihm nun als pensionierte Ärztin tatkräftig zur Seite stand – und den Söhnen Gabe und Dan erneut klar. Die Bindung an die Wurzeln in Ružomberok brachte schliesslich mit der Aufarbeitung des Tagebuches ein wertvolles Dokument für Forschung und Interessierte hervor, das Roths Andenken über Akron und seinen näheren Kreis hinaus gewährleistet.

Weg in die USA
Von Angehörigen liebevoll Vlado genannt, hatte er am Ende seiner Schulzeit 1966 dank eines unternehmungslustigen Mitschülers einen Ferienjob in Dänemark gefunden. Zwei Jahre später gingen die jungen Männer erneut für den Sommer dorthin. Nach dem russischen Einmarsch in Prag im August 1968 blieb Roth im Ausland. Das brachte ihm eine Verurteilung wegen Landesflucht zu drei Jahren Gefängnis in absentia ein. Er konnte deshalb erst Ende der 1980er Jahre seine Heimat erneut besuchen. Zunächst ging er jedoch nach Paris und kam 1969 mit Hilfe der Immigranten-Organisation HIAS nach New York City. Roth schlug sich als Gärtner durch und schloss bleibende Freundschaften, nicht zuletzt mit Jerry Fischer, der später Geschäftsführer des jüdischen Gemeindeverbandes im Südosten von Connecticut wurde und uns den Kontakt zu Roth vermittelt hat. Fischer hat seinen alten Freund seit Dezember mehrfach besucht und hielt an der Feier eine bewegende Würdigung.

In New York hatte Roth zudem die Studentin Marta Bloch kennengelernt und am Brooklyn Polytechnic Institute studiert. Auch Bloch stammte von Holocaust-Überlebenden ab, hatte jedoch Wurzeln in Tschechien. Roth schloss 1977 einen Doktor in Technischer Mechanik ab und begann 1981 eine fruchtbare Karriere in der Forschungsabteilung von Firestone Tire & Rubber (heute Bridgestone) in Akron, wo die als Anwalt und Fotograf tätigen Söhne zur Welt kamen. Roth hat mehrere Patente erworben und trat 2014 in den Ruhestand.

Starker Zusammenhalt
Im Februar war seine Schwester Tanja aus Frankenthal zum Abschied nach Akron gekommen. Das Tagebuch hat den Geschwistern neue Seiten der Mutter offenbart. Denn obwohl Eva in den 1990er Jahren Interviews mit der Shoah Foundation geführt hat, die Ereignisse aus dem Tagebuch erwähnen, hat sie den Kindern die Existenz des Dokumentes nie enthüllt. Die 1946 geborene Lamprecht führt den starken Familiensinn der Geschwister auf die Verfolgung der Verwandten im Zweiten Weltkrieg zurück. Sie und Vlado hätten stets ein sehr enges Verhältnis gehabt. Aber der Zusammenhalt in der weiteren Familie insgesamt sei ausserordentlich stark gewesen: «Wir sind im Haus unserer Grosseltern aufgewachsen und waren viel zusammen mit deren Geschwistern und anderen Verwandten, die ebenfalls den Krieg überlebt hatten.» Später sei ihr und dem Bruder aufgegangen, wie wichtig beider Geburt für die älteren Angehörigen gewesen war: «Sie haben gerade den Krieg überstanden. Und so kurz danach haben wir als Neugeborene den Überlebenden gezeigt, dass es weitergeht.» Diese Zuneigung wurde den Geschwistern früh deutlich: «Wir haben immer irgendwie gespürt, dass wir von allen geliebt werden. Der Zusammenhang mit dem überlebten Krieg ist uns aber erst viel später bewusst geworden.»

Eine juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung der faschistischen Ära blieb im slowakischen Landesteil nach der Gründung der neuen, ab Februar 1948 von den Kommunisten als Diktatur geführten Tschechoslowakei jedoch weitgehend aus. Und schon bald wurde Antisemitismus erneut zur Staatsdoktrin. Im Herbst 1952 fanden die Slánský-Prozesse statt. Hand in Hand mit den gegen jüdische Kader und Ärzte gerichteten Schauprozessen Stalins in der Sowjetunion, begannen bei den neuen Satelliten Moskaus Verfahren gegen überwiegend jüdische Partei-Prominente wie den Parteivorsitzenden Rudolf Slánský in Prag. Mit ihm wurden 13 weitere Kader unter anderem als «zionistische und bürgerlich-nationalistische» Landesverräter angeklagt. Zehn davon waren jüdischer Herkunft. Nach dem Schuldspruch wurden Slánský und zehn weitere Angeklagte am 3. Dezember 1952 in Prag gehängt.

Karol Roth, der spätere Vater von Tanja und Vlado, hatte den Krieg nach der Niederschlagung des Slowakischen Volksaufstandes im Oktober 1944 versteckt und als Partisan überlebt. Er und Eva hatten mit Hilfe eines mutigen Priesters katholisch geheiratet und waren dann gemeinsam aus Ružomberok in die Tatra-Berge geflohen. Kurz nach Kriegsende trat Karol Roth Ende 1945 in die Kommunistische Partei ein. Aber im September 1951 hat ihn die Staatssicherheit verhaftet. Roth verbrachte 18 Monate er im berüchtigten Gefängnis in Ruzyně, davon ein Jahr in Einzelhaft. Als er 1954 ein Jahr nach dem Tod Stalins und des tschechoslowakischen Präsidenten Klement Gottwald entlassen wurde, hatte Roth über 30 Kilo Gewicht verloren und war gesundheitlich schwer angeschlagen. Er hat sich davon nie wirklich erholt und wurde erst 1968 offiziell rehabilitiert. Damals habe er auch eine finanzielle Entschädigung erhalten, sagt Tanja.



Schwerer Schlag
Die Verhaftung Karols war für Eva mit ihren zwei kleinen Kindern ein schwerer Schlag. Wegen ihrer guten Kenntnisse der Sprache hat sie nach Kriegsende zunächst in Ružomberok und nach dem Umzug der Familie nach Bratislava auch dort als Russisch-Lehrerin gearbeitet. Damit konnte sie zumindest für kurze Zeit ihren Traum aus dem Tagebuch verwirklichen. Nach der Verhaftung ihres Mannes hatte sie diese Stelle sofort verloren und musste die Wohnung innerhalb von zwei Wochen räumen. Eva ging mit den Kindern zurück in ihre Geburtsstadt und kam bei den Eltern unter. Die Nähe von Tanja und Vlado zu älteren Angehörigen war daher auch ein direktes Ergebnis der Verfolgung des Vaters. Eva durfte fortan nicht mehr unterrichten. Sie war die Ehefrau eines Staatsfeindes.

Diese Schicksale und Geschichten kamen bei dem Besuch in Akron erneut auf. Roth blieb ganz selbstverständlich stolz auf das Stehvermögen und die Leistungen seiner Familie. Dies gilt nicht zuletzt für den in Ungarn geborenen Rabbiner Moshe Arye Roth (1845–1906). Dieser publizierte 1904 mit dem Aufsatz «Der Zionismus vom Standpunkt der jüdischen Orthodoxie» ein in seiner Glaubensrichtung damals seltenes Plädoyer für die jüdische Nationalbewegung und hatte im Jahr zuvor am sechsten Zionistenkongress in Basel teilgenommen. Vlado Roth hat gelächelt, als er eine Weisheit des Vorfahren zum Besten gab: «Lieber ein Jude ohne Bart als ein Bart ohne Juden.»

Andreas Mink