Blick in die wirklichen Welten der Literatur.
Buchmendel wollte eigentlich Rabbiner werden. 1882 kam er aus Galizien nach Wien. Doch dann entdeckte er Bücher und Wissen. Er wurde der geniale, kauzige Buchhändler. Die Geschichte von Jakob Mendel spielt im Ersten Weltkrieg; Stefan Zweig hat sie 1929 geschrieben.
Seinen Büchertisch hat Buchmendel in einem Kaffeehaus in Wien eingerichtet. Er bestellt Bücher aus ganz Europa, schreibt Briefe an ausländische Buchhändler, wird als feindlicher Spion verdächtigt, dann interniert und verliert während seiner Haft alles – seine Bücher, seinen Lebensinhalt und seine geistige Klarheit. Als er nach dem Krieg zurückkehrt, ist er nur noch ein gebrochener Mann, den niemand mehr erkennt oder wertschätzt.
Zweigs Novelle hat – wie Franz Kafkas Erzählung «In der Strafkolonie» von 1914 – vorweggenommen, was kommen wird. Sie zeigt auf eindringliche Weise, wie Krieg, Bürokratie und Gleichgültigkeit gerade die klügsten und friedlichsten Menschen zerstören. Bedeutende Literatur ist stets auch eine über die Zeit, in der sie gelesen wird – ein Seismograph der Zukunft.
«Mendel, der Buchhändler» liest sich in diesen Tagen wie eine Geschichte aus der Gegenwart: Bücher, Wissen, die Freiheit der Literatur gelten als Bedrohung. Wöchentlich schreitet die McCarthy-Matrix mehr und mehr voran – in Verboten, Beschränkungen, Gesinnungspolitik, Entlassungen und der Destabilisierung von Rechtsstaat und liberalen Grundwerten. Willkür und Angst machen sich zusehends breit, Geschichte wird umgeschrieben.
Als ob George Orwell die digitale Macht gekannt hätte, nimmt er in «1984» die Kontrolle durch das System vorweg. Albert Camus beschreibt in «Die Pest» die Mechanismen des Faschismus, Éric Vuillard schildert in «Die Tagesordnung», wie die deutsche Wirtschaftselite am 20. Februar 1933 mit Hitler und Göring zusammensitzt und die finanzielle Basis für den Nationalsozialismus sichert. Er beschreibt den Anschluss Österreichs 1938, der nicht als triumphaler Einmarsch, sondern als eine Mischung aus Inkompetenz, Opportunismus und Feigheit geschildert wird.
Geschichte wiederholt sich nie, lässt sich nicht vergleichen. Literatur legt Mechanismen frei, seziert Entwicklungen und benennt Despotismus oder Barbarei. Vuillard liefert eine dichte, scharfsinnige Abrechnung mit Opportunismus und stiller Komplizenschaft, die den Aufstieg des Faschismus als Ergebnis von Kalkül und Ignoranz entlarvt.
Die grosse Literatur von Liebe, Hass und Krieg hatte Buchmendel im Sortiment – bis sie ihm zum Verhängnis wurde, bis freies Denken ihm zum Verhängnis wurde. Zweig lässt uns im Ungewissen darüber, ob der Jude Mendel, der Buchnarr Mendel oder letztlich der zugewanderte Fremde verraten und wieder zum heimatlosen Ankömmling gemacht wurde.
Buchmendel hätte um die Bücher von Hannah Arendt, Karl Popper, Primo Levi, Jean Améry oder später Timothy Snyder und Anne Applebaum gerungen – Schriften, in denen letztlich nicht nur die offene Gesellschaft und damit der Gesellschaftsvertrag immer wieder neu verhandelt werden, sondern auch Antisemitismus betrachtet wird. Doch selbst dieser wird heute zum Spielball der Ideologien und diffus.
Der Pakt autokratischer Despoten in Europa, Israels rechtsextremer Regierungsmitglieder mit Vertretern rechtsextremer Politiker gegen eine weltweit mehrheitlich politisch liberale jüdische Gemeinschaft zeigt, wie verheerend die Abkehr von Vernunft und Freiheit sein kann und in welches Dilemma ideologischer und identitärer Nationalismus jüdische und andere Minderheiten stürzen kann.
Zweig schreibt: «Er lebte in einem unsichtbaren Reich, in der grenzenlosen Welt der Bücher, und kannte nichts von dem, was um ihn vorging.» Doch: «Er kannte nicht die Menschen, nur ihre Bücher.» Die Menschen haben ihn verraten, interniert und nach seiner Rückkehr verfemt. Geblieben sind ihm die Bücher – und die Erkenntnis daraus. War es das wert?
Hannah Arendt gibt in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» vielleicht eine Antwort: «Das Wesentliche ist nicht, was die vielen tun oder nicht tun, sondern dass der Einzelne sich weigert, mitzumachen.»
Die Zeiten für den Widerstand haben längst begonnen.Also vorwärts!
Yves Kugelmann ist Chefredaktor des aufbau.