standpunkt 10. Okt 2024

Kaddisch auf die Freiheit

Ist das Jahr der Bedrohung die neue Normalität oder die Aufforderung zur Maxime des Handelns? 

Die jüdischen Gemeinschaften stehen weltweit an einer Weggabelung. Wie wollen sie in welche Zukunft schreiten? Der 7. Oktober und alles, was folgte, hat die Entscheidungsdringlichkeit verschärft, aber nicht begründet. An kaum einer Konferenz innerhalb der israelischen oder jüdischen Gesprächswelt fiel nicht irgendwann in den letzten Jahren die Floskel vom «Elefant im Raum». Alle wussten jeweils, was gemeint war, und doch wusste mit der Zeit niemand mehr so genau, was denn. Der Palästinakonflikt, die Demokratiefrage, die jüdische Säkularisierung, die Spaltungen innerhalb der Gemeinschaften oder jene Kluft zwischen Juden und Jüdinnen innerhalb und ausserhalb Israels, jene zwischen Juden und Juden? Denn der gemeinsame Nenner zwischen Juden und Juden ist durch die letzten Monate nicht kleiner sondern profilierter geworden. Je länger desto mehr, hat sich Israel wie eine Keil zwischen die Fraktionen geworfen und man ist gerne an die Debatten der ersten Zionistenkongresse erinnert, die vielleicht sogar mit ähnlichen Vorzeichen um die jüdische Gegenwart und Zukunft gerungen haben. Die Negation des Unausgesprochenen hat in den letzten Jahren ein innerjüdisches Vakuum begründet, das heute in Zeiten der Krise virulent wird. Die Gemeinschaften haben sich in ihre eigenen Kreise zurückgezogen, verschärfen den Ton, suchen die Konfrontation und führen eine Art homogene Selbstgespräche. All dies mag menschlich, allzu menschlich sein, und doch wird es fatal sein. Denn der Anlass zur Negation bleibt bestehen und schwelgt im Hintergrund, wie ein ignoriertes kleines Leck im Boot. Banalitäten in komplexen Zeiten. Doch wer bringt die Kraft auf, das Schweigen zu durchbrechen, die Themen aufzugreifen und den einst so reflexartigen Schritt in die Zukunft zu wagen? Jüdische Verbände und Organisationen haben in der freien jüdischen Welt den Diskurs zu dominieren und gleichzuschalten begonnen, ebenso wie Israel bis tief in die Gesellschaften einzuwirken begonnen hat. Abhängigkeiten wurden geschaffen und die Freiheit einer Art vorauseilendem Gehorsam ohne Not geopfert. Mit dem 7. Oktober ist dieses Vakuum nicht aufgebrochen, sondern sichtbarer geworden. Antisemitismus gab es davor, verschärft artikulierten Antisemitismus danach. Oder wurde über Nacht alles anders? Hatten alle jahrelang alles nicht oder falsch gesehen oder übersehen? Abermillionen sind in jüdische Studien, Reportings, Analysen, in Thinktanks geflossen. Antisemitismus wurde je länger desto mehr zur Raison d’être einer jüdischen organisierten Gemeinschaft, die dann überfordert ist, wenn er unverhofft an die Türe klopft. Jüdische Organisationen und Funktionäre haben Antisemitismus in den Amalekstatus und zum Selbstzweck erhoben und so einer jüdischen Idee zum Durchbruch verholfen, die das Missverständnis von Judentum war. Denn Judentum ist Freiheit, geht nur mit Freiheit, Offenheit und Pluralität, die in den Jahren vor dem 7. Oktober je länger desto mehr nicht von aussen, sondern von innen geopfert wurde – Kategorien, die es eigentlich längst nicht mehr geben sollte. Das bedeutet noch lange nicht, dass der verheerende Terror, die Bedrohung Israels oder der Juden nicht zutiefst real wäre, aber es bedeutet, dass zu viele zu lange unvorbereitet auf die Erfüllung der Angst gewartet haben. All dies mag man verstehen, doch all dies schaffte ein psychisches Ghetto, aus dem kaum mehr herauszufinden ist, weil die Lösungsoptionen klein sind. Der «Elepfant im Raum» hat mehr und mehr Raum eingenommen und die Freiheit der Gemeinschaft und die Handlungshoheit eingeschränkt. Und jetzt? Alle wissen, was dringend nötig wäre. Doch wer eröffnet und führt die Diskussion, wenn nicht alles immer jenen überlassen wird, die die Errungenschaften bekämpfen? Wer sind heute die Pioniere der Zukunft, da alles dem Oligarchiat und somit Geldadel unterstellt wird? Wer sind heute die unabhängigen Visionäre, die das Feld nicht irgendwelchen Funktionären mit eigener Agenda überlassen wollen und die intransparente Hinterzimmer Politik durchbrechen? Immer wieder wurde ein Parlament der Jüdinnen und Juden gefordert – was natürlich Unsinn ist. Doch die übergeordnete Idee als solche könnte nicht relevanter und notwendiger sein. Die Idee einer egalitären, offenen Debatte, die endlich das Zeitalter der schweigenden Lämmern, lavierenden Elefanten und weghörenden Affen eine demokratische, aufgeklärte und selbstverantwortliche Gemeinschaft macht, die sich auf alle Chancen, Weichenstellungen und Bedrohungen mit Verstand und Weitsicht einstellt.

Yves Kugelmann